In Erinnerung an Helmut Ziegert, Archäologe.
In der Nacht zum Ostersonntag starb mein Vater. Im Beisein von seiner Frau, von uns drei Kindern und seinem Schwiegersohn. Er war zufrieden mit seinem Leben, geistig klar, mutig und ruhig, und starb so, wie man es einem geliebten Menschen wünscht. Er lässt alle grüßen.
Sehr geehrtes Team der kieferorthopädischen Praxis **,
gerade verbringe ich ein paar Urlaubstage im Norden und lerne das Leben ohne die feste Klammer kennen. Sie haben gute Arbeit gemacht, und die Zeit bei Ihnen war erstaunlich angenehm. Ich möchte kurz Dank sagen, die beigelegte Nascherei versteht sich als solcher.
Bitte vermuten Sie nicht, daß ich Hintergedanken hätte, daß etwas anderes als Achtung mich an diese Kleinigkeit hat denken lassen. Keineswegs lag mir eine Revanche im Sinn, und es ist nicht wahr, daß ich über Monate schon den Plan fasste, mit der Zusendung von sechs Pfund zuckerbestreutem Zuckerschaum den Gebissen der Folterknechte einen Hieb zu versetzen, der eine der Tränen trocknen mag, die auf den Gesichtern der armen geschundenen Kinder ihre Spur zieht, während Sie darüber gebeugt die jungen Knochen biegen und quetschen und quälen und weiter quälen und kein Ende finden bis die Seele gebrochen, und nur noch Schmerz aus den erloschenen Augen scheint.
Ich selbst habe keine Tränen mehr. Zu oft sah ich Mütter ohne Mitleid, die ihre Brut über die Schwelle stoßen, verführt von verdorbenen Versprechungen, oder gar selbst diesem harten Gotte verfallen, der nur Stahl duldet, wo vorher ein Lächeln war. Ich habe das Grauen in den Gesichtern der Wartenden gesehen, wenn aus den Turmzimmern einer derer herunterstieg, dessen Schreie uns zuvor durch Mark und Bein gingen. Ein Mensch wohl noch, aber nun grausam zugerichtet, den Mund voller Draht, die Haut blass, die Schritte unsicher – als sei er einer der Geblendeten im alten Byzanz, die sich bettelnd durch die Gassen und Bazare tasteten und all die Farben nicht mehr sehen konnten, seit das glühende Eisen alles um sie herum in Dunkelheit tauchte.
Heute ist das Eisen kalt geworden, es hat sich verwandelt in einen bösartigen dünnen Draht. Doch es ist noch immer der gleiche Geist. Es ist der Abgrund, in dem das Dunkle wohnt.
Wir wissen aus lang vergangenen Zeiten, daß alles dem Wandel unterliegt. Auch die größte Finsternis wird nicht bis an das Ende der Tage dauern. Und ich sage Ihnen, daß dereinst einer kommen wird, der als Zeichen das Mal des geborstenen Drahtes tragen wird, und Er wird sich erheben von der Marterbank, und Er wird sich den Stahl aus dem Mund reißen, und die Faust, die den geborstenen Draht umschließt, wird Er hoch in die Luft recken, auf das all die Geknechteten seine Tat sehen, und einer nach dem anderen wird aufstehen und es Ihm nachtun, bis ein Meer von Fäusten in der Luft steht, und aus tausend Kehlen nur ein Ruf – „Freiheit!“
O. Ekdahl
(nach Diktat verreist)
Stunden später sind wir bis Preungesheim gekommen, es wird schon kalt und dunkelt, also schnell diesen schmalen Gang am Gefängnis finden, und ab zur Bahn. Den Stacheldraht sieht man schon von weitem. Riesige lange Spiralen. Vor dem Zaun, auf dem Zaun, übereinandergestapelt, glänzend und neu („Nato-Draht, bei jeder Bewegung schneidet der sich tiefer ins Fleisch.“). Der Gang ist wirklich schmal, keinen Meter breit, wir gehen hintereinander, der Hund am Ende, müde vom langen Tag. Alle paar Meter ein Schild: „Privatweg der Justizvollzugsanstalt!“
Hinter dem Zaun ist kein Mensch. Kameras, ein paar niedrige Werkstattgebäude, leere Asphaltfläche. Weiter hinten sind Mauern zu sehen, in verschiedener Höhe, ineinander verschachtelt. Der Weg biegt nach links, und wir laufen frontal auf das Haupttor zu. Schiebetüren aus mannsdickem Stahl in einer hohen Betonwand. Ned schätzt mindestens zwölf Meter hoch. Symmetrische Platten aus Beton. Ganz glatt. Dunkelgrau und glänzend, keine Verfärbung, alles neu.
Wir müssen rechts die Straße runter. An der Mauer entlang. Es gibt keinen Trennstreifen, keinen vorgelagerten Zaun. Wir gehen auf der Straße und eine Armlänge von uns jagen zwölf Meter Beton in den Himmel. Ich bleibe stehen, irgendetwas stimmt nicht. Der Hund schnauft. Nur sein Schnaufen ist zu hören, sonst ist es still. Kein einziges Geräusch hinter der Gefängnismauer. Kein Klappern, keine entfernte Lüftungsanlage, kein Brummen, kein Rauschen, absolut nichts. Wir warten, minutenlang auf irgendeinen Ton. Nichts.
Ned schaut mich an, ballt die Hand zur Faust und schlägt zweimal mit den Knöcheln gegen die Mauer. Das ist laut. Zweimal läuft ein dumpfes Peitschen durch den Beton. Dann wieder Stille.
Keine Antwort.
So sieht es also aus. So oder so ähnlich. Was für ein beschissener Ort zum Sterben.
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Müde und verschlafen, immer einen Kaffee in der Hand, betrat Wotan morgens das Klassenzimmer. Seine tiefen Augenringe und die roten Augen ließen erahnen, daß er in der Nacht zuvor viel erlebt hatte, und oft wusste er im Morgenkreis davon zu berichten.
War zu Beginn des Tages eine Hindernisbahn aus Bänken und Tischen aufgebaut – um die fein- und grobmotorische Koordination zu üben – so zeigte sich Wotan anfangs scheu und zurückhaltend, öffnete sich aber im Laufe des Jahres für seine Körperlichkeit. Oft stellte er nun auf den wackeligen Parcourbänken den anderen Kindern ein Bein. Und immer gab es ein großes Hallo, wenn er einen Besenstiel zur Hand nahm, und einem balancierenden Kind einen Knöchel oder das Knie zerschlug.
Im rhythmisch-musikalischen Teil fand Wotan nur zögerlich ins Tun. Besonders die chorischen Gesänge fielen ihm schwer. Seine ‚Satanas‘-Rufe drangen zwar mit voller Lautstärke durch den Raum, fügten sich aber selten in den Fluss der Stimmen ein. Aufmunternde Zeichen von seiner Lehrerin halfen ihm dann, und Wotan kam immer besser in die Nachahmung zurück. Das chorische Singen bleibt aber zu üben, seine begleitenden Gesten entsprechen nicht den Vorgaben.
Wotan gestaltete seine Epochenhefte sehr schön und liebevoll. So wurden gepresste Frösche oder in Scheiben geschnittene Jungvögel auf die Seiten geklebt. Auch verzierte er die Bilder mit benutzten Spritzen oder Nadeln – die er wohl auf dem Spielplatz gefunden hatte (sein Angebot, eine Fleißarbeit zu diesem Thema zu erstellen, wurde in Rücksprache mit dem Direktor auf das zweite Schuljahr verschoben).Wotans Epochenhefte sind für die Klassengemeinschaft ein Quell der Freude.
In seinen Buchstabenbilder fand sich Stacheldraht. Er zeigte auch ein gutes Gespür für Klingen und Altmetall. Gerne griff er in seine unerschöpflichen Hosentaschen, wenn eines der anderen Kinder zu ihm kam, und nach Draht oder nach einer Schnappfalle fragte (und nie ließ er sie gehen, ohne ihnen einen kräftigen Schluck Birnenschnaps anzubieten).
Im Erzählteil verband sich Wotan auf schöne Weise mit der Märchenwelt. Aufgeregt forderte er, die Bösewichte ‚auszuknipsen‘ oder ‚wegzumachen‘. Hier wird sein Sinn für Gerechtigkeit sichtbar.
Bei unseren Ausflügen erwies sich Wotan als ausdauernder Wanderer, der Wind und Wetter trotzte. Seine Offenheit und Kontaktfreude zeigte sich besonders in der Hafengegend. Viele Arbeiter schienen ihn zu kennen, und immer huschte ein feines Lächeln über sein Gesicht, wenn ihm einer dieser breiten Kerle einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter gab. Wotan führte uns auch in versteckte Gassen, und stellte uns russische oder ukrainische Mädchen vor. Immer hatte er dann lustige Spielideen, die für sein Alter recht ungewöhnlich sind.
Auf dem Pausenhof hat Wotan schnell in die Gemeinschaft hineingefunden. Meist spielt er mit einer großen Gruppe ‚Aufessen!‘, oder er klettert mit seinen Freunden auf das Dach der Schule und wirft brennende Pappkartons in die Schornsteine.
Er hat einen ausgeprägten Sinn für Regeln, die er jedoch nicht immer auf sich selbst anzuwenden weiß. So war er auch nach dem bedrückenden Vorfall im Januar nicht bereit, sein Taschenmesser abzugeben. Hier ist Übung nötig, damit er sich mit den Vorgaben seiner Lehrerin noch besser verbindet.
Wotans Hass und seine Verachtung haben viel Neues in die Klassengemeinschaft gebracht. Da er Lernen ablehnt und schon mal zornig wird, wenn er an die Tafel kommen soll, braucht er im zweiten Schuljahr noch etwas Ansprache, damit er besser in den Strom des Unterrichtsgeschehens findet. Mögen ihm die wohlverdienten Sommerferien die Kraft dafür schenken.
Sinnspruch für das zweite Schuljahr:
Finstrer Ort und finstrer Sinn,
Nun blühen die Rosen drüber hin.
(Theodor Fontane, Königs Wusterhausen)