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Texte von Björn Ziegert

Anmerkung zu José Limas 'Paradiso'

Seltenhain hat mir heute eine Nachricht mit dem neuesten Zug geschickt. Ich setzte mich mit Kaffee an das Brett und fühlte mich wie im 'Paradiso'. Seltenhains fieser Vorstoß auf dem Damenflügel erinnerte mich an die Bauern aus Deinem Buch. In dem Schachspiel, das Du, mein lieber José, beschreibst, hatten sie "Hacke und Sichel mit Dolchen vertauscht, auf denen sprichwörtliche, den Tod abwehrende Ausrufe eingraviert waren und Geier erhaben auf dem in den Hals der Verfluchten verliebten Halbmond hockten."
José, was diese Geier bedeuten, ist mir ungefähr so klar wie mein nächster Zug in dieser offensichtlich verlorenen Partie. Auf den 650 Seiten hast Du eine Fülle von solchen Bildern hinterlassen. Es ist ein großartiges Buch – keine Frage! Voller Ideen. Die Sprache hat mich ruhiger gemacht. Die ist echt reich. Aber was soll dieser fade Mittelteil? Drei Freunde – Cemí, der Held im Paradies, Foción und Fronesis – ergehen sich da in endlosen Monologen über die Auferstehung der Leiber und über die Homosexuellen in Dantes Inferno. Endlos! Herrgott, dann ist Fronesis eben schwul. Und der andere auch noch. Vor ein paar Jahrzehnten mag das in Deinem Cuba noch ein heißes Eisen gewesen sein. Aber heute?
Machen wir es so: Ich rupfe jetzt aus diesem Ding gut 150 Seiten heraus, und dann – ja, dann ist es ein verdammt gutes Buch. Eines der besten, die ich gelesen habe.
Und genauso rupfe ich jetzt einen Bauern aus Seltenhains Armada heraus und treibe ihn mit Hacke und Sichel in den Abgrund. Wenn alles gut geht.

6 Kommentare

Ah, jetzt gehst du auch unter die Kritiker. Wunderbar! Denn nun erfahre ich etwas über deine Lesewelten ...

Der "rasende" Kritiker, der Abgründe liebt und deshalb auch die Apokalypse. Er hält nicht viel von Bekenntnissen: Man outet sich nicht, weil man ist bereits geoutet - in jeder Hinsicht. Deshalb kommt man auch gleich zur Sache - und wenn schon, dann aber richtig!

Wirklich gern gelesen!
tjm.

Buchbesprechungen: gute Idee, sollte ich auch mal probieren!

Seiten ausrupfen, eine rapiate Methode. Bisher habe ich immer überblättert.

650 Seiten: um Gottes Willen!!
Aus den herausgerissenen 150 Seiten liesse sich doch bereits ein "Reisser" machen...

Lieben Gruss in die neue Woche,
Brigitte

Heidi Hof, das war wirklich eine eigene Lesewelt. Obwohl in dem Buch nicht wirklich Wert auf Tempo gelegt wird. Dafür eine Vielzahl an mythologischen Bildern, Ergüssen über Nietzsche, die Ägypter und Geistesgeschichte rund um die Welt. Sehr karibisch dazu. Cuba halt!

Tasso J. Martens, die Abgründe dürfte José noch vertieft haben. Schon der Beginn: Baldovina versucht, dem kleinen Jungen, von Asthma und "violetten Flecken" gepeinigt, zu helfen, indem sie Wachs auf seinen Körper träufelt. Schon apart!

Ronald, unbedingt! Mich hat Seltenhain dazu regelrecht getrieben. Er stand eines Nachts mit einem Stapel Bücher vor meiner Tür (aus Andernach! Nur wegen der Sache!) und bat mich höflich, für ihn eine Vorauswahl zu treffen, sonst würde er hier alles in Brand stecken. Das ist typisch für ihn. Meist passiert nichts. Spuckt große Töne.

Sammelmappe, 'Rupfen' ist immer noch eine der besten Methoden, die Lesbarkeit zu erhöhen. Habe früher oft in Buchhandlungen gestanden und schwache Passagen mit Filzer geschwärzt. Dauert aber eindeutig zu lange. Mit Rupfen geht das heute viel schneller.

Quer, das war nicht das Problem. Büchern unter 400 Seiten sollte man sowieso nicht trauen. Es geht in der Literatur nicht darum, was man sagt. Es geht darum, wie man es sagt und vor allem, wieviel man sagt! Kein Werk unter 750g schafft es, einem verdorbenen Charakter wie mir, den Spiegel vorzuhalten.

Als Dank für die Kommentare gehen am Donnerstag (frische Ware!) zwei Kisten Zigarren an jeden von Euch (per Post!). Bitte wählt selbst!
Hier noch ein paar Eindrücke, die das Buch sicher besser beschreiben:
Audio-Slide

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