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Texte von Björn Ziegert

Eiweißprobleme!

„Vierundsechzisch Jahr‘. Und Milljonär isser – ja, ja … Von wesche.“ Jupp reckt sich hoch und schaut durchs Fenster in das verhasste Doppelzimmer. „Was macht er jetz‘? Schläft er? Ach, ne. Milljonär – bla, bla, bla! Du Drecksack, du!“ Dann erzählt er, wie sein Zimmergenosse nachts im Winter die Balkontür aufreißt, die Nachttischlampe quält („An, aus, an, aus …“) oder gelegentlich die Kleiderschränke umwirft. „Und dann stinkt der! Neee! Milljonär, von wesche! So ein Drecksack!“ Als ich das Zimmer durchquerte, um mich zu Jupp auf den Balkon zu setzen, war mir der Geruch schon aufgefallen. Beißend nach Schweiß. Die beiden Betten stehen keine zwei Meter auseinander. Zwischen ihnen Jupps ‚Alien II‘-Laufgerät. Für jeden ein Nachttisch auf Rollen mit Schubladen und Ablage. Schränke mit Plastikbeschichtung, ein Fernseher, ein Kasten Mineralwasser. Ein blauer Plastikstuhl.
Die mitgebrachte Salami und den Käse sollte ich auf den Balkonboden legen. In den Schatten eines umgekippten Sonnenschirmfußes. Jetzt reden wir über den Wochenmarkt und wo denn die gute Hausmacherwurst geblieben sei. ‚Klack‘ – ein Zimmer weiter geht die Tür auf. Eine alte Frau kommt heraus, zündet sich eine Zigarette an, raucht drei Züge und bringt die Kippe zu Jupp („Hast‘e keine Marlboro? Hä? Ach, die versteht nix.“). Das Schauspiel wiederholt sich alle vier bis fünf Minuten. ‚Klack‘, Frau raus, Paffpaff, Rest zu Jupp, Frau wieder ins Zimmer. Sie schwankt beim Gehen. Eingefallener Mund, weiße Härchen im Gesicht. Dreiviertelhose, Wollsocken und Puschen aus Filz. Sie sagt nicht viel. Höchstens „Willst’e weide‘ rauche‘?“ oder „Nachher bring‘ ich dir noch eine.“ Fast liebevoll. Jupp verlangt Marlboro und sinniert dann wieder über „Presskopp und Lebbe’wurst. Un‘ Pressack! Ach ja …“ Am Ende des Balkons hat sich eine der Schwestern auf einen Stuhl gesetzt und blickt misstrauisch zu uns herüber. Richtig Betrieb hier heute. Als Jupp dann von Pferdewurst schwärmt und schließlich lauthals „Eiweißprobleme!“ schreit, sucht sie schnell das Weite. ‚Klack‘ – die alte Frau kommt wieder aus dem Nebenzimmer und raucht.
Dann Knastgeschichten. Und wie gerne er da noch wäre. „Um seschzehn Uhr kommen die Schließer, um sibbzehn Uhr dann Esse‘, und dann kann man noch raus. Und Fußball oder Handball. Oder Hanteln halt. Ja, ja. Die fünfkilo Hanteln! Oj, oj, oj – das war noch was.“  Und starrt wieder auf seinen verdorrten Arm. ‚Klack‘ – nebenan geht wieder die Tür auf. „Willst’e weide‘ rauche‘?“ Jupp kann schon gar nicht mehr.  Muss die sechste oder siebte sein, die sie ihm zwischen die Lippen steckt. Kurzes Nicken, als sie an mir vorbeigeht. Tiefe Augenringe. Stiller, trüber Blick. Eine Frau, die wartet.
Ich schaue auf die Baumwipfel und lasse ein bißchen Zeit vergehen. Es ist heiß. Mein T-Shirt ist noch nass von dem Fußmarsch in der Sonne.  Für einen Moment ist es ganz ruhig. Die alte Frau geht mir nicht aus dem Kopf. So kann es also enden. Auf einem Balkon in der Einflugschneise zum Frankfurter Flughafen.  Ich drehe mich um und frage mich, was wohl in Jupps Kopf vorgeht. Er spuckt die Kippe aus und sieht mir in die Augen. „Isch bin tot! Also, lebendisch tot. Ne, escht!“

4 Kommentare

Keine leichte Kost, deine Jupp- Geschichten.
Man konfrontiert sich mit der Sorge die Autonomie zu verlieren.

"Eine Frau, die wartet", macht frösteln.

Jupp ist zur Zeit ohne Wenn mein Lieblings- Antiheld.

Ach, ist das traurig und wahr!
Und man möchte es am liebsten nicht wahrhaben...

Gruss, Brigitte

Es ist höchste Zeit, wieder auf die Epiphyte von gegenüber zu sprechen zu kommen. Sie hat sich die Haare gefärbt – ein fahles Gelb aus der Kollektion Margot Honecker – und blickt weiter ohne Scham zu uns herüber. Die weichen, delligen Arme lehnen weiterhin auf dem drapierten Kisen, und immer noch dasselbe bläuliche Schürzenkleid. Da Winkversuche, Nackttänze und gelegentlich geschleuderte Luftballons mit Katzenpischi (fragt bitte nicht, wie ich das gesammelt habe …) das 'Auge' nicht getrübt haben, versuche ich es nun anders. Mein Lehrmeister auf der Diplomatenschule sagte immer "Die wichtigste Regel von allen: Wenn du sie nicht überzeugen kannst – verwirre sie!" Also bin ich heute morgen unter ihrem Fenster entlang gegangen – die Epiphyte spähte schon gierig – da riss ich mir plötzlich den Rucksack herunter, schleuderte ihn hoch, so dass er klatschend neben ihr an die Wand schlug, und schrie "Das ist doch alles ihre Schuld mit Stuttgart21! Hat es Ihnen nicht gereicht? Über hundert Verletzte! Sie Schlächterin!!" Nun hoffe ich, daß dies ebenfalls keine 'leichte Kost' für sie war. Ihr Haar wurde jedenfalls etwas fahler, sie bekam rote Flecken im Gesicht, verschluckte sich und verschwand hustend im Zimmer.
Das 'Auge' ist nicht unbedingt mein persönlicher Anti-Held. Das Wort 'Held' müsste man wohl streichen, während ich bei Jupp ohne Zögern das 'Anti' wegnehmen würde. Dieser Mensch ist ein Philosoph. So zumindest meine Hoffnung, um nicht nur das Traurige in der Geschichte zu sehen.
Um übrigens im neuen Eintrag 'Die Hornbrille' einen Eindruck von deren Haarfrisur (Silbergrau, Kollektion Kenny Rogers) zu bekommen, bitte ich Euch, einen Blick auf Folgendes zu werfen: Audio-Slide

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