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Texte von Björn Ziegert

Waldorfschule, Zeugnistag

Me /Kl.1 / Wotan P.

Wotan erfreut uns durch sein düsteres und missmutiges Wesen, das sich in erfrischender Weise von den anderen Kindern unterscheidet.

Müde und verschlafen, immer einen Kaffee in der Hand, betrat Wotan morgens das Klassenzimmer. Seine tiefen Augenringe und die roten Augen ließen erahnen, daß er in der Nacht zuvor viel erlebt hatte, und oft wusste er im Morgenkreis davon zu berichten.
War zu Beginn des Tages eine Hindernisbahn aus Bänken und Tischen aufgebaut
um die fein- und grobmotorische Koordination zu üben so zeigte sich Wotan anfangs scheu und zurückhaltend, öffnete sich aber im Laufe des Jahres für seine Körperlichkeit. Oft stellte er nun auf den wackeligen Parcourbänken den anderen Kindern ein Bein. Und immer gab es ein großes Hallo, wenn er einen Besenstiel zur Hand nahm, und einem balancierenden Kind einen Knöchel oder das Knie zerschlug.
Im rhythmisch-musikalischen Teil fand Wotan nur zögerlich ins Tun. Besonders die chorischen Gesänge fielen ihm schwer. Seine ‚Satanas‘-Rufe drangen zwar mit voller Lautstärke durch den Raum, fügten sich aber selten in den Fluss der Stimmen ein. Aufmunternde Zeichen von seiner Lehrerin halfen ihm dann, und Wotan kam immer besser in die Nachahmung zurück. Das chorische Singen bleibt aber zu üben, seine begleitenden Gesten entsprechen nicht den Vorgaben.
Wotan gestaltete seine Epochenhefte sehr schön und liebevoll. So wurden gepresste Frösche oder in Scheiben geschnittene Jungvögel auf die Seiten geklebt. Auch verzierte er die Bilder mit benutzten Spritzen oder Nadeln
die er wohl auf dem Spielplatz gefunden hatte (sein Angebot, eine Fleißarbeit zu diesem Thema zu erstellen, wurde in Rücksprache mit dem Direktor auf das zweite Schuljahr verschoben).Wotans Epochenhefte sind für die Klassengemeinschaft ein Quell der Freude.
In seinen Buchstabenbilder fand sich Stacheldraht. Er zeigte auch ein gutes Gespür für Klingen und Altmetall. Gerne griff er in seine unerschöpflichen Hosentaschen, wenn eines der anderen Kinder zu ihm kam, und nach Draht oder nach einer Schnappfalle fragte (und nie ließ er sie gehen, ohne ihnen einen kräftigen Schluck Birnenschnaps anzubieten).
Im Erzählteil verband sich Wotan auf schöne Weise mit der Märchenwelt. Aufgeregt forderte er, die Bösewichte ‚auszuknipsen‘ oder ‚wegzumachen‘. Hier wird sein Sinn für Gerechtigkeit sichtbar.
Bei unseren Ausflügen erwies sich Wotan als ausdauernder Wanderer, der Wind und Wetter trotzte. Seine Offenheit und Kontaktfreude zeigte sich besonders in der Hafengegend. Viele Arbeiter schienen ihn zu kennen, und immer huschte ein feines Lächeln über sein Gesicht, wenn ihm einer dieser breiten Kerle einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter gab. Wotan führte uns auch in versteckte Gassen, und stellte uns russische oder ukrainische Mädchen vor. Immer hatte er dann lustige Spielideen, die für sein Alter recht ungewöhnlich sind.
Auf dem Pausenhof hat Wotan schnell in die Gemeinschaft hineingefunden. Meist spielt er mit einer großen Gruppe ‚Aufessen!‘, oder er klettert mit seinen Freunden auf das Dach der Schule und wirft brennende Pappkartons in die Schornsteine.
Er hat einen ausgeprägten Sinn für Regeln, die er jedoch nicht immer auf sich selbst anzuwenden weiß. So war er auch nach dem bedrückenden Vorfall im Januar nicht bereit, sein Taschenmesser abzugeben. Hier ist Übung nötig, damit er sich mit den Vorgaben seiner Lehrerin noch besser verbindet.
Wotans Hass und seine Verachtung haben viel Neues in die Klassengemeinschaft gebracht. Da er Lernen ablehnt und schon mal zornig wird, wenn er an die Tafel kommen soll, braucht er im zweiten Schuljahr noch etwas Ansprache, damit er besser in den Strom des Unterrichtsgeschehens findet. Mögen ihm die wohlverdienten Sommerferien die Kraft dafür schenken.

Sinnspruch für das zweite Schuljahr:
Finstrer Ort und finstrer Sinn,
Nun blühen die Rosen drüber hin.
(Theodor Fontane, Königs Wusterhausen)

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