wortgebrauch Gedichte Texte Satire

Texte von Björn Ziegert

Nach der Zahnklammer

Norden im August 2012

Sehr geehrtes Team der kieferorthopädischen Praxis  **,
gerade verbringe ich ein paar Urlaubstage im Norden und lerne das Leben ohne die feste Klammer kennen. Sie haben gute Arbeit gemacht, und die Zeit bei Ihnen war erstaunlich angenehm. Ich möchte kurz Dank sagen, die beigelegte Nascherei versteht sich als solcher.
Bitte vermuten Sie nicht, daß ich Hintergedanken hätte, daß etwas anderes als Achtung mich an diese Kleinigkeit hat denken lassen. Keineswegs lag mir eine Revanche im Sinn, und es ist nicht wahr, daß ich über Monate schon den Plan fasste, mit der Zusendung von sechs Pfund zuckerbestreutem Zuckerschaum den Gebissen der Folterknechte einen Hieb zu versetzen, der eine der Tränen trocknen mag, die auf den Gesichtern der armen geschundenen Kinder ihre Spur zieht, während Sie darüber gebeugt die jungen Knochen biegen und quetschen und quälen und weiter quälen und kein Ende finden bis die Seele gebrochen, und nur noch Schmerz aus den erloschenen Augen scheint.
Ich selbst habe keine Tränen mehr. Zu oft sah ich Mütter ohne Mitleid, die ihre Brut über die Schwelle stoßen, verführt von verdorbenen Versprechungen, oder gar selbst diesem harten Gotte verfallen, der nur Stahl duldet, wo vorher ein Lächeln war. Ich habe das Grauen in den Gesichtern der Wartenden gesehen, wenn aus den Turmzimmern einer derer herunterstieg, dessen Schreie uns zuvor durch Mark und Bein gingen. Ein Mensch wohl noch, aber nun grausam zugerichtet, den Mund voller Draht, die Haut blass, die Schritte unsicherals sei er einer der Geblendeten im alten Byzanz, die sich bettelnd durch die Gassen und Bazare tasteten und all die Farben nicht mehr sehen konntenseit das glühende Eisen alles um sie herum in Dunkelheit tauchte.
Heute ist das Eisen kalt geworden, es hat sich verwandelt in einen bösartigen dünnen Draht. Doch es ist noch immer der gleiche Geist. Es ist der Abgrund, in dem das Dunkle wohnt.
Wir wissen aus lang vergangenen Zeiten, daß alles dem Wandel unterliegt. Auch die größte Finsternis wird nicht bis an das Ende der Tage dauern. Und ich sage Ihnen, daß dereinst einer kommen wird, der als Zeichen das Mal des geborstenen Drahtes tragen wird, und Er wird sich erheben von der Marterbank, und Er wird sich den Stahl aus dem Mund reißen, und die Faust, die den geborstenen Draht umschließt, wird Er hoch in die Luft recken, auf das all die Geknechteten seine Tat sehen, und einer nach dem anderen wird aufstehen und es Ihm nachtun, bis ein Meer von Fäusten in der Luft steht, und aus tausend Kehlen nur ein Ruf  –  „Freiheit!“

O. Ekdahl
(nach Diktat verreist)

nach oben