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Texte von Björn Ziegert

2. Stock

Alle paar Minuten seh' ich vis-à-vis die grauen Haare,
Brille, blaues Schürzenkleid; die Frau ist um die 80 Jahre
Bellt da unten so ein Kläffer oder hupt vielleicht ein Wagen
— schon sieht man die großen Augen aus dem kleinen Fenster ragen
Ihre dicken weißen Arme werden auf das Sims gehoben
und dann starrt sie wieder runter. Blick aufs Leben — nur von oben
Alles, was belanglos ist, darf sie auf keinen Fall verpassen
Die Gardine auf! Für das Theater in den engen Gassen

25 Kommentare

Gut beobachtet und ge-, beschrieben!

hat sie auch so ein altes, plattgedrücktes kissen, dass sie bei geöffnetem fenster auf den rahmen legt, damit es keine druckstellen auf den unterarmen gibt?

...super, prima, take it easy,
gassenschluchten sind lebendig,
und es gibt fast keine pause,
denn die bühne wechselt ständig...

ruhig, still und ohne worte
spielt sie ihre neugier aus,
würde sie herunterbrüllen,
leute ja, das wär ein graus...

wie frau jucks, nomen est omen,
diese geißel, war den ganzen tag dabei,
brüllte, fluchte, kommentierte
je nach laune, frank und frei.

ignorieren rächt sich,
aufmerksamkeit schenken (leider) auch!
mein ratschlag soll den frieden schüren:

BENUTZEN SIE DIE HINTERTÜREN

So eine Nachbarin haben wir auch!

Mona Lisa, vielen Dank, aber mein Gegenüber hat mir die Worte förmlich aufgedrängt! Großartig auch ihre Reaktion, wenn sie einen von uns sieht. Egal ob wir kurz winken oder nicken – keine Reaktion. Sie guckt nicht einmal in eine andere Richtung! Nur stumpfes Starren. Ihr Alltag dürfte ziemlich grau sein.

Bruemmer, sie nicht, doch schräg unter ihr im 1. Stock gibt es eine vielleicht 50jährige mit Minipli, die zum Rauchen ans Fenster kommt. Die hat wirklich ein schmutzig rosafarbenes Kissen als Armablage. Hab' mich fast weggeschmissen, als ich das zum ersten Mal sah! Muss noch herausfinden, ob zwischen den beiden irgendeine Verbindung besteht.

LadyArt, ob das Grauhaar überhaupt eine Tür benutzt, bezweifle ich stark. Auf der Straße ist sie mir noch nie begegnet. Stimme Dir allerdings voll zu: Keifen und Herunterbrüllen wäre arg! Sie ist eher still, fast pflanzenartig. Wie ein dicker Epiphyt im blauen Schürzenkleid! Ohne Wurzeln im richtigen Leben. Vielleicht rankt sie noch nach oben!

Heidi Hof, nach Bruemmers Anmerkung dachte ich mir schon, daß der Epiphyten-Nachbar ein verbreitetes Phänomen ist. Zu klären wäre, ob alle Epiphyten-Menschen auf geheimnisvolle Weise zusammengehören. Ich vermute, daß sie – so wie Polypen in einer Vollmondnacht zur gleichen Zeit ihre Brut in das Wasser entlassen – spüren, wenn ihre Blutsgeschwister aus dem Fenster quellen. Dann schnappen sie sich das Kissen und wachsen über die Fensterbank nach draußen. Unsichtbare Fäden. Das Netz der Epiphyten-Menschen!

Als Dank für das Gedicht und die Kommentare geht schon morgen (per Post!) ein weiches simsfähiges Kissen aus feinem Ziegenleder an Euch.
Und bitte berichtet von Euren Eindrücken! Wer weiß, was man so alles unter sich sieht. Bin gespannt, ob die Vermutungen zutreffen:
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So spannend und spektakuär sinnlich wie diese graue Landschaft kann ihr Leben gar nicht sein!
Solche Figuren kenne ich aus meiner Kindheit, aber sie gibt es hier immer noch, auch in der männlichen Variante. Sie gehören zu manchen Straßenzügen dazu. Gibt es sie nicht mehr, fehlt etwas, auch wenn sie nie irgendwelche Reaktionen gezeigt haben.

Gerade habe ich mich entschieden, eine Reaktion der Epiphyte zu erzwingen. Musste die große Leiter nehmen, um die Schuhe mit der Ledersohle vom obersten Regal zu holen. Schwarzes Hemd, schwarze Hose. Und einen Schnurrbart habe ich mir auch aufgemalt. Jetzt werde ich auf die andere Straßenseite gehen, hoch in den zweiten Stock, den Ghettoblaster vor ihrer Tür abstellen, Musik an, klingeln – und wenn sie dann öffnet, greif' ich sie mir, schmeiß' mir ihre fetten Arme über die Schulter und dann tanzen wir Tango:
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Na, hoffentlich hat sie dich nicht erdrückt!

Nein, erdrückt hat mich die Epiphyte nicht. Das lag aber einzig an meiner ausführlichen Vorbereitung! Nur so war ich wendig genug, der vollen Wucht ihres schwingenden Körpers auszuweichen. Für Nachahmer empfehle ich die 'Front Ochos with Sacadas'. Ein wenig Öl auf dem Oberkörper dürfte die Schlüpfrigkeit noch erhöhen. Aber erst einmal Schritt für Schritt!

die tango-fotostrecke ist der hammer!

Hab' das Ding bestimmt vier- oder fünfmal gesehen, als ich es entdeckte. 7:11! Genial, nach einigen Tango-Bildern diesen langen Ausflug in das argentinische Leben zu machen, bevor es wieder in den Tanzsaal zurückgeht. Und was für ein Bandoneonspieler! Unfassbar gut, das Ganze.
Vergessen wir für einen Moment unsere Abneigung gegen bewegte Bilder und werfen einen Blick auf den kurzen Tango-Film, den Pablo zusammen mit Pocho Alvarez gemacht hat (Der Taxifahrer zitiert Borges!!): Vorhang auf!

Auf ihrer Gartenpforte
wohl meistens ohne Worte
lehnt stracks die Frau vom Dachs.

Vorbei flaniert Frau Wiesel,
ihr Mann, ein arger Stiesel,
den jeder mied, verschied

jüngst rasch und unerwartet,
was den Verdacht erhartet,
daß sie's erfreut, nicht reut.

Frau Dachs nimmt nicht Notiz.
Frau Wiesel bemerkt dies.
Die Beiden sich nicht leiden

können, das ist wohl bekannt.
Schon ist jene fort gerannt,
die's Gift der Mißgunst trifft

von Nachbars strenger Frau.
Die geht in ihren Bau
denkt Worte, die der Pforte

der Seele nicht entkamen.
Im Herzen kein Erbarmen.

Frau Dachs und Frau Wiesel, super! Und "Im Herzen kein Erbarmen" klingt hübsch gnadenlos. Doch nach meinen gestrigen Erlebnissen mit der Epiphyte von Gegenüber weiß ich, daß nun und für alle Zeiten den Menschen eine todsichere Methode zur Überwindung allen Unheils, aller Streitigkeiten, allen Übels auf der Welt gegeben wurde! Heruntergerissen das Hemd und den Zauberspruch gerufen:
Mandelblüten, Moos und Mango
Nachbarin, wir tanzen Tango!

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Schade, das ich nicht deine Nachbarin bin, würde so gerne mal (Tango) tanzen.

Komme gerade von gegenüber. Seit heute morgen hat mich die fette Epiphyte herumgewirbelt. Unersättlich, sie ist unersättlich! Wenn Du Deine Nachbarn dazu bewegen willst, Dich zum Tanzen zu holen, schlage ich folgende Veränderung am Bürgersteig vor. Ist allerdings Rumba.

Tja: belanglos ist relativ...

Sorry!

Angeblich soll ja auch Geschmack relativ sein, aber das halte ich für übertrieben. Zum Beispiel habe ich noch keinen Menschen getroffen, der von Bonnies Bildern nicht begeistert gewesen wäre:
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Es ist das Vorrecht der Jugend, die Fensterguckerei so zu sehen.
In meinen Augen macht die alte Frau das einzig Richtige, um Freude am Leben zu haben. Und daß sie dicke, weiße Arme hat, ist ihrem Alter geschuldet.

Bitte nicht falsch verstehen. Auch wenn ich für dieses Blog einen sarkastischen Ton schätze und nichts gegen das ein oder andere Messergemetzel einzuwenden habe: das Grundanliegen ist, (neben einer gehörigen Portion Schabernack) den sozialen Verhältnissen einen Spiegel vorzuhalten. Es geht hier nicht darum, eine alte Frau in den Schmutz zu ziehen. Es ist die Klage darüber, daß alte Menschen vereinsamt in ihren Wohnungen hocken und nichts besseres zu tun haben als Ödnis zu betrachten. Das Leben nur noch von oben sehen. Bis der Cadillac Funeral Hearse auf sie wartet:
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Es hat mich gereizt, so zu kommentieren.
Auch ich bin Schabernack nicht abgeneigt, nichts gegen das, aber der Aspekt, was Alter aus uns machen kann und meistens auch macht, "zwang" mich zu dieser Reaktion.
Keiner kann sagen, wie er im Alter sein wird (sofern er es überhaupt erreicht). Vielleicht ist es lediglich eine Frage des Glücks, in welcher Form und Verfassung man sein Alter fristet.

Und keinem, der Pech gehabt hat, sollte man die Schuld dafür geben. Mein Blick richtet sich aber mehr noch auf die Umgebung der älteren Menschen. Darauf, daß wir Menschen in ihren Wohnungen allein lassen, das Alter ausblenden, Kranke nicht mehr sehen wollen und Tote in schwarzen Autos hinter dicken Gardinen verbergen. Wir verlieren die Menschen doch schon 20 Jahre bevor sie in der Kiste liegen:
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So sind wir Menschen eben: Just take a look at the brighter side of live.
Einer meiner Mikro-Beiträge war, drei alten Frauen zwischen 70 und 90 einen "Chat" zu gewähren, wenn ich meinen Vater im Altersheim besuchte.
2003 in Malta gab es eine Frau, die ihren Stuhl immer jeden Morgen an die Strasse stellte. Ich half ihr eines Abends, ihre Gerätschaften wieder in den Hof dahinter zu stellen.
Es war nicht so, daß sie nichts zu bieten hatte. Man unterhielt sich gerne mit der engl.Lady ein paar Worte auf dem Weg zum Strand.
Ein Initialerlebnis gab es auch vor etwa 12 Jahren: Auf zwei USA-Reisen mit dem Bus hatte ich gerade mit den alten Menschen guten Spaß abends. Die jungen Typen der Reisegruppe waren eher langweilig oder waren abends nicht zu sehen.
Daß ich mir sagte: Hey! Mit den alten Leuten hier kannst Du auch jede Menge Spaß haben, war eine neue Erfahrung. Ich war sogar so "frech", den einen "Cowboy" (etwa 63) mit "Machs gut, Junge!" zu verabschieden. In der Tat war der lebendiger und mehr crazy als die anderen viel jüngeren.
Diese Erfahrung, daß auch ältere Leute "funmässig" was zu bieten haben, wünscvhe ich manch jüngerem Menschen. Man muß dazu nur die Augen offen haben.

Bezüglich der Fensterdame: Wieso sie aufziehen mit Winke-Winke? Gib ihr eine Chance, sich einzubringen.
Wenn Du es willst.

Das sind gute Geschichten. Danke dafür. Ältere Menschen müssen auch nicht unbedingt im jugendliche Sinne lustig sein. Wenn man Perlen zuhören kann, die aus Jahrzehnten eines Lebens hervorstechen, ist man doch immer tief berührt. Sogar Begegnungen in fernen Ländern mit Alten, die kein einziges Wort von meinem Fremdländisch verstanden, sind mir eingegraben. Auch sehe ich den Unterschied nicht mehr. Selbst alt genug, auf eine jüngere Generation zu blicken, und gute Freunde verloren zu haben, die sich der Tod geholt hat, ist das alt und jung schon zersprungen. Jung ist, wer nach mir geboren wurde. Und, wer früh genug von dem Grausen gepackt wird, wenn der Schwindel kommt, der Fall auf das Pflaster vor einem Kaufhaus, der verwunderte Blick auf die Leute, die im Kreise stehen, das letzte Aufbäumen, das Ersticken, aufgerissene Augen, das Knacken hinten im Kopf – und dann diese wunderbare Stille.
Ein Wort noch zu der Fensterdame. Der Blick auf eine belebte Straße, auf Spaziergänger und auf ein hoch gerufenes "Guten Morgen, Frau Baum!" entspräche vielleicht eher dem Bild von einer Frau, die das Beste aus ihrer Situation macht. Jedoch es ist eine kleine Wohnstraße. Ohne Spaziergänger. Eigentlich, ohne dass irgendetwas passiert! Das ist, was traurig aussieht. Und das Winken war keineswegs eine scherzhafte Geste. Das war ein regulärer Gruß, wie ich ihn unter Nachbarn schätze. Doch wir leben hier in Frankfurt-Bronx, und die Unhöflichkeit meines Gegenübers passt gut in die Gegend. Als die Lederindustrie hier über den Jordan ging, wurde die Gegend von Migranten übernommen. Seit einiger Zeit ziehen die ersten Kreativen hierher. Die Epiphyte von Gegenüber gehört noch zu der alten Generation. Und ihre Blicke verraten, daß sie alles, was danach kam, für Pack hält. So sehr ich also Menschen wie sie bedaure, und meine, daß wir diese Lebenslagen verändern müssen, so übertrieben fände ich es, speziell in ihr einen netten Charakter zu vermuten. Sie schaut zu uns herüber und mag nicht, was in die Fabriketage eingezogen ist. Sie vermisst das Leder:
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Ok, jetzt haben wir uns wieder angenähert.
Merkwürdig das! Oder nicht.
So geht es oft in Diskussionen...

Noch etwas: Selbstverständlich sollten alte Leute nicht mit "Fun" aufkreuzen. Ich benutzte dieses Kürzel nur für aufgeschlossene Fröhlichkeit und Geniessen. Und ich brauchte damals nicht ein nettes Mädel in der Runde, das ich anstarren konnte. Mir war die sichtbare Lebenslust dieser Leute mehr als Ersatz genug.
Und "Perlen" habe ich von ihnen auch nicht erwartet oder aufzulesen versucht- nur diese eine: Daß Lebenslust sein kann TROTZDEM.

Freut mich sehr, daß Du Dir die Mühe gemacht hast, dieses Gespräch auch zu führen. Und: Orden für 'Lebenslust'. Wundersam genug ist die Welt:
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