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Texte von Björn Ziegert

Georgische Geschichten, Teil I

Im November war ich mit einem Fotografen und einem Übersetzer in der russisch-georgischen Grenzregion unterwegs. Wir sollten über das Verschwinden von jungen Männern berichten, die nach Zeugenaussagen von Georgiern oder Abchasen verschleppt und zum Dienst in der Miliz gezwungen wurden. In dieser Gegend tauchen junge Männer und Kinder seit Ende der 90er Jahre einfach ab. Ohne Grund und, ohne eine Spur zu hinterlassen. Der letzte Gewaltausbruch im Spätsommer 2008 hinterließ dann diese vielen Leichen auf offener Straße. Und in einigen Toten erkannten Freunde oder die eigene Familie einen Menschen wieder, den sie lange verloren glaubten.
Im Dorf *** gab es so einen Fall. Nach Jahren der Ungewissheit fand ein Bauer seinen Sohn keine zwei Kilometer vom eigenen Hof entfernt. In Uniform und wohl grausam zugerichtet. Wir suchten die Eltern auf, um Interviews und Fotos zu machen.
*** ist eine Ansammlung von zwanzig Holzhäusern. Ein paar Einschusslöcher, eine kleine Kirche, wütende Hunde, die Wäsche auf der Leine dunkelgrau und braun. Wir wurden erwartet und folgten dem alten Ehepaar durch den Matsch eine kleine Anhöhe hinauf. Vor dem Haus lag ein Haufen aus rostigen Eisengeräten, Plastikbahnen und kleinen kaputten Drahtkäfigen. Ein paar Latten auf dem Boden, um sicher gehen zu können. Sie baten uns hinein und wir setzten uns an den Küchentisch. Stille Menschen, kaum ein Wort. Die Frau kochte starken schwarzen Tee. Er schnitt uns Käsescheiben, die nach Milch und Butter schmeckten. Eine Katze sprang dem Alten auf den Schoß. Grau getigert. Sie ließ sich von ihm am Bauch kraulen und blieb schnurrend liegen, während wir redeten.
Dann die traurige Geschichte. Wie alles schlechter geworden sei, seit ihr Sohn nicht mehr da ist. Dass sie niemand versorgen würde, wenn sie einmal nicht mehr könnten. Dass er ja noch keine Frau und keine Kinder gehabt habe. Wie jung er gewesen sei. Und nie ein Wort über Politik. Schließlich der Tag, als der Alte seinen Sohn fand. Die Wunden und der Ausdruck in dem blassen Gesicht. Er wolle, daß die Welt von seinem Sohn erfahre. Und er scheiße auf die Miliz und all die anderen korrupten Schweine. Sie zeigten uns zwei Fotos. Ein kleiner Junge in schwarz-weiß und eine Familienfeier im Garten.
Ich fragte nach einer Geburtsurkunde oder einem Ausweis ihres Sohnes. Nein, sie hätten nichts von ihm. Seit den Kämpfen sei auch in der Kreisstadt alles zerstört, und keine Behörde hätte noch Unterlagen. Ich erklärte die Schwierigkeiten, die wir hier mit Propaganda von beiden Seiten hätten. Und, daß wir einen Nachweis bräuchten, um die Geschichte zu belegen. Der Mann starrte uns entgeistert an. Ein hilfesuchender Blick, sein Gesicht verzerrte sich. Der kleine Tiger schreckte hoch und maunzte. Der Alte schaute auf seinen Schoß. Dann plötzlich packte er die Katze, schmiss sie auf den Tisch, drückte sie mit der linken Hand flach auf das Holz, nahm mit der Rechten das Messer, holte weit aus und rammte dem Tier die Klinge quer durch den Rücken. Er schrie etwas. "Das ist nichts gegen den Schmerz, den ich fühle! Und ich soll ein Lügner sein?" Unser Übersetzer lief nach draußen und übergab sich.
Langsam gewann die Frau ihre Fassung wieder. Sie bekreuzigte sich, flüsterte ein paar Worte und legte dann ihre Hände wie zum Gebet ineinander. Ich schaute auf den Tisch. Das Zucken hatte aufgehört. Und kein Blut. Er hatte das Messer mit so einer Wucht in das Tier gestochen, daß die Wunde im Holz steckte.
Als wir uns verabschiedeten, drückte mir die Frau ein kleines Heiligenbild aus Papier in die Hand. Sie seien keine schlechten Menschen. Ich versprach ihr, die Geschichte ihres Sohnes aufzunehmen. Der Mann schaute mich lange an. Ich gab ihm nicht die Hand.

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