09
Okt
2010
Bis ich nicht mehr da bin
Wenn man zu Jupp will, muss man Gitter öffnen. Vor jeder Treppe ist eine dieser hüfthohen Türen aus Stahlrohr, die schlimme Unfälle verhindern sollen. Schnappöffnung: anheben, drücken, absetzen. Und „bloß wieder zumachen, die rennen doch sonstwohin!“ Bis in den zweiten Stock sind das vier Gittertüren, also nehme ich jetzt immer den ‚Fahrstuhl ohne Beschleunigung‘. Da habe ich Zeit für einen Blick in den Spiegel, denke über „Bettenaufzug, 1600kg Nutzlast“ nach, und ob sie die Sechsundachtzigjährige („Ich hab‘ sie an dem Tach noch geseh’n!“) gleich mitsamt ihrem Sterbebett nach unten geschafft haben. Dann kurz die Schnürsenkel nachziehen, ein Schluck Wasser – und schon bin ich im zweiten Stock!
Hier ist alles wie immer. Auf dem Flur das Klavier mit dem unberührten weißen Deckchen, die Keramikblumen aus der Bastelstunde mit Schwester Margarethe, das übliche Stöhnen aus dem Zimmer vorne rechts – nur Jupp ist nicht da. In seinem Zimmer niemand außer dem Mitbewohner, dem ‚Milljonär‘ („Jaja, Milljonär – von wesche! Scheiße mit Ei!“). Der Platz vor dem Fernseher dagegen ist leer. Ein Zivi berichtet gelangweilt, daß Jupp seit zwei Tagen verschwunden sei, man habe die Polizei schon informiert und er wisse ja auch nicht.
Ich stehe auf dem Gang. Die alte Frau von nebenan tritt aus ihrer Tür. Vor ein paar Tagen hatte ich sie noch auf dem Balkon gesehen. Jupp bot ihr eine Zigarette an, und sie strahlte mich an. „Haben Sie die mitgebracht? Sind die von Ihnen? Die schmecken ja viel besser als meine.“ Und hielt mir eine ausgedrückte Dreiviertelkippe entgegen. Dann erzählte sie, daß es ihr nicht gut ginge. „Ich hab‘ ja keine Zähne und dann so Kopfschmerzen. Aber ich rauch‘ immer. Bis ich tot bin. Bis ich nicht mehr da bin, qualm‘ ich.“ Und jetzt stehen wir uns auf dem Gang gegenüber, und sie schaut mich mit großen Augen an.
Miroslav B. Dušanić am 10.10.10 7:23
und das Schlimmste ist es: „Hier ist alles wie immer.“
und so wird es auch nach paar Monate sein
und so wird es auch nach zehn Jahre sein
mit oder ohne Jupp
mit oder ohne "alte Frau von nebenan"
mfg
Quer am 12.10.10 8:18
Das geht unter die Haut. - Und Jupp, seit er nicht mehr da ist, fehlt einem so richtig...
Gruss, Quer
O. Ekdahl am 13.10.10 16:13
Die fehlende Veränderung, das stille Warten auf den nächsten freien Bettenplatz empfinde ich auch als besonders schlimm. Und wenn ich mir vor Augen halte, wie langsam (wenn überhaupt) über die Einführung von neuen Medien nachgedacht wird, sehe ich auch in zehn Jahren keine Besserung. Auch unter die Haut geht die sprachliche Betonung von 'nur noch', 'bis' und 'nicht mehr' bei Menschen, die in diesem Bereich in Leitungsfunktionen tätig sind. Viele blicken verständnislos, wenn es um Verlegung von Heimen in belebte Stadtgebiete geht ("Aber warum denn bloß?"). Und bei kleinen Lösungen blitzen die Augen auch nicht gerade häufig auf: Audio-Slide
Markus am 15.10.10 23:41
Ich verneige mich. Ein wundervolles Stück Prosa. Danke.
Gruß,
Markus
O. Ekdahl antwortete auf den Kommentar von Markus am 22.10.10 22:17
Dieser freundliche Kommentar kann nur ironisch gemeint sein. Eine subversive Attacke im Mantel der Höflichkeit. Dagegen gilt es sich zu wehren, und ich weiß auch schon, wo ich mich vorbereiten werde: Audio-Slide