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Texte von Björn Ziegert

Die Hornbrille

Jupp erzählt, wie damals eine Freundin gestorben ist. Und wie er im Knast die Einladung für die Beerdigung bekam. Eben, als die Schwester kurz auf dem Balkon war, hatte er noch gedroht, er wolle das Pflegepersonal vom Heim verprügeln („Mann oder Frau – egal!“). Und das hat ihn an früher, an seinen Gefängnisdirektor erinnert.  Der ihm keinen Freigang für die Beerdigung gewährte, worauf Jupp sich mit einer schallenden Ohrfeige bedankte: „Patsch, hat’ er eine sitzen! Un‘ – eine Woche Arrest. Dann wiede‘ raus, un‘ er sacht ‚Na, wollen sie jetzt einen Kaffee?‘ und ich ‚Sie Arschloch!‘ Un‘ Patsch, hat er wiede‘ eine sitzen. Un‘ – zwei Wochen Arrest.“
Über die Schließer dagegen nur gute Worte. Wie er einem das Auto repariert habe. Und der ihm dafür zweitausend D-Mark gab, obwohl Jupp nichts verlangt hatte. Und dass die auch immer gesoffen hätten. Whiskey in der Thermosflasche.  „Un‘ dann bin ich raus, auf Hofgang, un‘ da steht ein Schließer un‘ raucht, un‘ ich denk‘ ‚Mmmh, das riecht aber gut!‘ Un‘ frag ihn, ob er mal ‘ne Zigarette hat. Un‘ er so ‚Nee, das geht nicht!‘ Aber dann so ‚Hier!‘ un‘ ich dann ‚Ffffffft‘ und dann oi, oi, oi! Mann hab‘ ich geschlafe‘! Am nächsten Tach bis vierzehn Uhr, un‘ fuffzehn Uhr, un‘ nur müde! Aber Mann, hab‘ ich mich gefühlt! Oi, oi, oi.“
Dann muss Jupp auf Klo, und ich soll die Schwester rufen und draußen warten. Ich schlendere den Gang entlang. Aus dem Raum rechts leises Stöhnen. Links kommt der Aufenthaltsraum. Darin ein paar viereckige Tische mit kleinen Deckchen, Plastikstühle, Linoleumboden, weiße Tapeten. Eine winzige, faltige Frau im Rollstuhl, ganz zusammengesunken. Zwei andere, die mir den Rücken zukehren. Und weiter hinten noch eine Frau mit silbergrauen Haaren, einer hellen Strickjacke und Hornbrille. Ich lehne mich an den Türrahmen und sehe ihnen beim Fernsehen zu. Nachmittagsprogramm, sehr laut.
Nach einer Weile dreht sich die Hornbrille um, setzt sich steif auf und starrt mich unverwandt an. Ich bin ganz in schwarz heute. Die Jacke – nass vom Regen auf dem Balkon – hängt an mir herunter, schwarze Mütze auf dem Kopf. Die Hornbrille starrt weiter und fängt langsam an, mit dem Kopf zu schütteln. Und starrt und schüttelt mit dem Kopf. Dann streckt sie den Arm aus, scheucht mich mit der Hand und flüstert „Geehh weg! Geeehh weg!“

Eiweißprobleme!

„Vierundsechzisch Jahr‘. Und Milljonär isser – ja, ja … Von wesche.“ Jupp reckt sich hoch und schaut durchs Fenster in das verhasste Doppelzimmer. „Was macht er jetz‘? Schläft er? Ach, ne. Milljonär – bla, bla, bla! Du Drecksack, du!“ Dann erzählt er, wie sein Zimmergenosse nachts im Winter die Balkontür aufreißt, die Nachttischlampe quält („An, aus, an, aus …“) oder gelegentlich die Kleiderschränke umwirft. „Und dann stinkt der! Neee! Milljonär, von wesche! So ein Drecksack!“ Als ich das Zimmer durchquerte, um mich zu Jupp auf den Balkon zu setzen, war mir der Geruch schon aufgefallen. Beißend nach Schweiß. Die beiden Betten stehen keine zwei Meter auseinander. Zwischen ihnen Jupps ‚Alien II‘-Laufgerät. Für jeden ein Nachttisch auf Rollen mit Schubladen und Ablage. Schränke mit Plastikbeschichtung, ein Fernseher, ein Kasten Mineralwasser. Ein blauer Plastikstuhl.
Die mitgebrachte Salami und den Käse sollte ich auf den Balkonboden legen. In den Schatten eines umgekippten Sonnenschirmfußes. Jetzt reden wir über den Wochenmarkt und wo denn die gute Hausmacherwurst geblieben sei. ‚Klack‘ – ein Zimmer weiter geht die Tür auf. Eine alte Frau kommt heraus, zündet sich eine Zigarette an, raucht drei Züge und bringt die Kippe zu Jupp („Hast‘e keine Marlboro? Hä? Ach, die versteht nix.“). Das Schauspiel wiederholt sich alle vier bis fünf Minuten. ‚Klack‘, Frau raus, Paffpaff, Rest zu Jupp, Frau wieder ins Zimmer. Sie schwankt beim Gehen. Eingefallener Mund, weiße Härchen im Gesicht. Dreiviertelhose, Wollsocken und Puschen aus Filz. Sie sagt nicht viel. Höchstens „Willst’e weide‘ rauche‘?“ oder „Nachher bring‘ ich dir noch eine.“ Fast liebevoll. Jupp verlangt Marlboro und sinniert dann wieder über „Presskopp und Lebbe’wurst. Un‘ Pressack! Ach ja …“ Am Ende des Balkons hat sich eine der Schwestern auf einen Stuhl gesetzt und blickt misstrauisch zu uns herüber. Richtig Betrieb hier heute. Als Jupp dann von Pferdewurst schwärmt und schließlich lauthals „Eiweißprobleme!“ schreit, sucht sie schnell das Weite. ‚Klack‘ – die alte Frau kommt wieder aus dem Nebenzimmer und raucht.
Dann Knastgeschichten. Und wie gerne er da noch wäre. „Um seschzehn Uhr kommen die Schließer, um sibbzehn Uhr dann Esse‘, und dann kann man noch raus. Und Fußball oder Handball. Oder Hanteln halt. Ja, ja. Die fünfkilo Hanteln! Oj, oj, oj – das war noch was.“  Und starrt wieder auf seinen verdorrten Arm. ‚Klack‘ – nebenan geht wieder die Tür auf. „Willst’e weide‘ rauche‘?“ Jupp kann schon gar nicht mehr.  Muss die sechste oder siebte sein, die sie ihm zwischen die Lippen steckt. Kurzes Nicken, als sie an mir vorbeigeht. Tiefe Augenringe. Stiller, trüber Blick. Eine Frau, die wartet.
Ich schaue auf die Baumwipfel und lasse ein bißchen Zeit vergehen. Es ist heiß. Mein T-Shirt ist noch nass von dem Fußmarsch in der Sonne.  Für einen Moment ist es ganz ruhig. Die alte Frau geht mir nicht aus dem Kopf. So kann es also enden. Auf einem Balkon in der Einflugschneise zum Frankfurter Flughafen.  Ich drehe mich um und frage mich, was wohl in Jupps Kopf vorgeht. Er spuckt die Kippe aus und sieht mir in die Augen. „Isch bin tot! Also, lebendisch tot. Ne, escht!“

Unerwünscht

„Sag mal, werden die Aschenbecher hier nie ausgeleert?“ „Ach wo. Ach wo denn! Hier is‘ doch nie einer!“ Jupp fuchtelt mit der dürren Hand, rückt sich im Rollstuhl zurecht und blickt starr nach rechts. Das macht er immer, wenn er sich aufregt. Zweiter Stock, wir sitzen draußen auf dem Balkon. Es ist windig, die Tür hinter mir knallt gegen den Rahmen („Scheißding, dieses …“). An die dreißig Meter wechseln sich Fenster und Glastüren ab. Eine Brüstung aus dickem Beton, als Boden ein Drahtgitter, unter dem Gitter steht schwarzes Wasser. Auf dem Mülleimer ein Berg von durchnässten Kippen. „Da wär‘ ich lieber noch im Knast! Eh’lisch. Hunnertvier Jahr‘, sibbenunneunzisch Jahr‘, sechsunachtzisch Jahr‘ … nee, fünfunachtzisch Jahr‘. Und schlafen, immer schlafen. Hier ist doch nischts! Gaar nischts!“ Die anderen Balkontüren sind alle geschlossen. Kein Mensch zu sehen, außer uns. Nur ein Flugzeug im Landeanflug. Jupp schaut misstrauisch hinterher.
Die Supermarktbesuche sind erst mal gestrichen, weil ich ihn mit der gebrochenen Hand nicht mehr schieben kann. Nächstes Mal soll ich ihm Schafskäse und Peperoni mitbringen. Und grobe Salami. „Tscha ja … na dann, alter Freund.“ Ich schaue ihn an. Jupp hat nicht mehr viele Menschen. Auch seine drei Kinder haben ihn seit Jahren nicht mehr besucht. Er war zweimal verheiratet. Einmal fünfzehn, einmal elf Jahre. („Dann hast du die Kinder alle mit Helga?“ „Nee, nee.“)
Zu Fuß nach Hause. Den Berg runter, links das alte Kasernengelände, dann am Laden vorbei. Der ‚Istanbul Market‘ hat ein Camping-Vorzelt aufgestellt, um die billigen Tomaten zu schützen. Ein paar dunkle Wolken stehen am blauen Himmel. Regentropfen auf der Sonnenbrille. Ich drehe mich einmal um mich selbst und vermisse den Regenbogen. Lauterborn ist wohl zu arm für eine Schüssel voll Gold.

Jupp

Die warnenden Worte waren mir noch im Ohr, als Jupp lauthals verlangte, zum Supermarkt geschoben zu werden ("Der wird bestimmt Alkohol trinken wollen. Das müssen Sie verhindern! Den Schlaganfall hat er schon vom Saufen."). Zwanzig Minuten bergab zum Laden, mühsames Zureden das Schnapsregal links liegen zu lassen, drei Packungen Marlboro an der Kasse, Feuerzeuge blau und rot und dann "Zwei Kognak! Die kleinen da! Doch, doch, natürlich! Was willst Du denn, ich war im Knast! Los!"
Jupp ist älter als ich, halbseitig gelähmt und der Arm auf der gesunden Hälfte von einem harten Unfall zu dürrem Astwerk geschrumpft. Sein "Ich kann laufen. Ich kann laufen!" trifft die Sache nicht ganz, denn er muss dazu in eine Maschine eingespannt werden, die an den Laderoboter aus Alien II erinnert. Seine Tätowierungen sehen schief und krumm aus, und die drei Tränen am rechten Auge wird ihm ein Zellengenosse mit der Sicherheitsnadel gestochen haben.
Der erste Kognak – 99 Cent in der Plastikflasche – wird geöffnet, als die Ladentür zwei Meter hinter uns liegt. Ich muss ihm die Flasche aufschrauben und an den Mund setzen ("Noch, noch! Und rauchen!"). Er raucht erst seit fünf Jahren ("Seit gar nichts mehr geht."). Die Zigarette stecke ich ihm angezündet in den Mund. Er atmet den Rauch ein während er redet, lässt die Asche auf den Bauch fallen ("Das macht nichts! Ach, das macht doch nichts!") und spuckt den Stummel schließlich mühsam zur Seite gebeugt wieder aus. Wir sitzen auf dem Parkplatz. Er in seinem Renaissance-Rolli, ich auf dem Kantstein. Es ist warm. Leichter Wind. Ein stiller Nachmittag in einem Industriegebiet, das die besten Tage hinter sich hat. Jupp hat Tropfen auf dem grauen T-Shirt. Die Fleecejacke ist voll Asche. Eine gnadenlose Fahne. Mir schwant Übles, wenn ich an Schwester Andrea denke.
Aber vorher muss ich ihn den ganzen Berg wieder hoch schieben. Das werden wohl mehr als zwanzig Minuten.

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