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Texte von Björn Ziegert

Kurztexte

Alle Texte zum Thema „Kurztexte“.

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Georgische Geschichten, Teil II

Protokoll Altenheim ***

Frage: Reichen die sanitären Anlagen für über hundert alte Menschen?
Antwort: Ja.
Frage: Wie oft kann man duschen?
Antwort: Die Bewohner werden gewaschen.
Frage: Können sie das beschreiben?
Antwort: In jedem Zimmer stehen Eimer und Schwamm. Der Pfleger macht das.
Frage: Bei allen? Sind denn alle ans Bett gefesselt?
Antwort: Wovon reden Sie?
Frage: Kann ein selbständiger Bewohner duschen, wenn er das möchte?
Antwort: Nein.
Frage: Was ist der Grund dafür?
Antwort: Wieso?
Frage: Duscht hier irgendwer?
Antwort: Was soll das hier? Die sind sauber!

Georgische Geschichten, Teil I

Im November war ich mit einem Fotografen und einem Übersetzer in der russisch-georgischen Grenzregion unterwegs. Wir sollten über das Verschwinden von jungen Männern berichten, die nach Zeugenaussagen von Georgiern oder Abchasen verschleppt und zum Dienst in der Miliz gezwungen wurden. In dieser Gegend tauchen junge Männer und Kinder seit Ende der 90er Jahre einfach ab. Ohne Grund und, ohne eine Spur zu hinterlassen. Der letzte Gewaltausbruch im Spätsommer 2008 hinterließ dann diese vielen Leichen auf offener Straße. Und in einigen Toten erkannten Freunde oder die eigene Familie einen Menschen wieder, den sie lange verloren glaubten.
Im Dorf *** gab es so einen Fall. Nach Jahren der Ungewissheit fand ein Bauer seinen Sohn keine zwei Kilometer vom eigenen Hof entfernt. In Uniform und wohl grausam zugerichtet. Wir suchten die Eltern auf, um Interviews und Fotos zu machen.
*** ist eine Ansammlung von zwanzig Holzhäusern. Ein paar Einschusslöcher, eine kleine Kirche, wütende Hunde, die Wäsche auf der Leine dunkelgrau und braun. Wir wurden erwartet und folgten dem alten Ehepaar durch den Matsch eine kleine Anhöhe hinauf. Vor dem Haus lag ein Haufen aus rostigen Eisengeräten, Plastikbahnen und kleinen kaputten Drahtkäfigen. Ein paar Latten auf dem Boden, um sicher gehen zu können. Sie baten uns hinein und wir setzten uns an den Küchentisch. Stille Menschen, kaum ein Wort. Die Frau kochte starken schwarzen Tee. Er schnitt uns Käsescheiben, die nach Milch und Butter schmeckten. Eine Katze sprang dem Alten auf den Schoß. Grau getigert. Sie ließ sich von ihm am Bauch kraulen und blieb schnurrend liegen, während wir redeten.
Dann die traurige Geschichte. Wie alles schlechter geworden sei, seit ihr Sohn nicht mehr da ist. Dass sie niemand versorgen würde, wenn sie einmal nicht mehr könnten. Dass er ja noch keine Frau und keine Kinder gehabt habe. Wie jung er gewesen sei. Und nie ein Wort über Politik. Schließlich der Tag, als der Alte seinen Sohn fand. Die Wunden und der Ausdruck in dem blassen Gesicht. Er wolle, daß die Welt von seinem Sohn erfahre. Und er scheiße auf die Miliz und all die anderen korrupten Schweine. Sie zeigten uns zwei Fotos. Ein kleiner Junge in schwarz-weiß und eine Familienfeier im Garten.
Ich fragte nach einer Geburtsurkunde oder einem Ausweis ihres Sohnes. Nein, sie hätten nichts von ihm. Seit den Kämpfen sei auch in der Kreisstadt alles zerstört, und keine Behörde hätte noch Unterlagen. Ich erklärte die Schwierigkeiten, die wir hier mit Propaganda von beiden Seiten hätten. Und, daß wir einen Nachweis bräuchten, um die Geschichte zu belegen. Der Mann starrte uns entgeistert an. Ein hilfesuchender Blick, sein Gesicht verzerrte sich. Der kleine Tiger schreckte hoch und maunzte. Der Alte schaute auf seinen Schoß. Dann plötzlich packte er die Katze, schmiss sie auf den Tisch, drückte sie mit der linken Hand flach auf das Holz, nahm mit der Rechten das Messer, holte weit aus und rammte dem Tier die Klinge quer durch den Rücken. Er schrie etwas. "Das ist nichts gegen den Schmerz, den ich fühle! Und ich soll ein Lügner sein?" Unser Übersetzer lief nach draußen und übergab sich.
Langsam gewann die Frau ihre Fassung wieder. Sie bekreuzigte sich, flüsterte ein paar Worte und legte dann ihre Hände wie zum Gebet ineinander. Ich schaute auf den Tisch. Das Zucken hatte aufgehört. Und kein Blut. Er hatte das Messer mit so einer Wucht in das Tier gestochen, daß die Wunde im Holz steckte.
Als wir uns verabschiedeten, drückte mir die Frau ein kleines Heiligenbild aus Papier in die Hand. Sie seien keine schlechten Menschen. Ich versprach ihr, die Geschichte ihres Sohnes aufzunehmen. Der Mann schaute mich lange an. Ich gab ihm nicht die Hand.

Anmerkung zu José Limas 'Paradiso'

Seltenhain hat mir heute eine Nachricht mit dem neuesten Zug geschickt. Ich setzte mich mit Kaffee an das Brett und fühlte mich wie im 'Paradiso'. Seltenhains fieser Vorstoß auf dem Damenflügel erinnerte mich an die Bauern aus Deinem Buch. In dem Schachspiel, das Du, mein lieber José, beschreibst, hatten sie "Hacke und Sichel mit Dolchen vertauscht, auf denen sprichwörtliche, den Tod abwehrende Ausrufe eingraviert waren und Geier erhaben auf dem in den Hals der Verfluchten verliebten Halbmond hockten."
José, was diese Geier bedeuten, ist mir ungefähr so klar wie mein nächster Zug in dieser offensichtlich verlorenen Partie. Auf den 650 Seiten hast Du eine Fülle von solchen Bildern hinterlassen. Es ist ein großartiges Buch – keine Frage! Voller Ideen. Die Sprache hat mich ruhiger gemacht. Die ist echt reich. Aber was soll dieser fade Mittelteil? Drei Freunde – Cemí, der Held im Paradies, Foción und Fronesis – ergehen sich da in endlosen Monologen über die Auferstehung der Leiber und über die Homosexuellen in Dantes Inferno. Endlos! Herrgott, dann ist Fronesis eben schwul. Und der andere auch noch. Vor ein paar Jahrzehnten mag das in Deinem Cuba noch ein heißes Eisen gewesen sein. Aber heute?
Machen wir es so: Ich rupfe jetzt aus diesem Ding gut 150 Seiten heraus, und dann – ja, dann ist es ein verdammt gutes Buch. Eines der besten, die ich gelesen habe.
Und genauso rupfe ich jetzt einen Bauern aus Seltenhains Armada heraus und treibe ihn mit Hacke und Sichel in den Abgrund. Wenn alles gut geht.

Jubel für Shiny Island

Aus gegebenem Anlass entschließt sich der Herausgeberkreis folgenden leider unvollständigen Augenzeugenbericht zu veröffentlichen: Howrah Bridge beim Eintreffen Shiny Islands, 28. März 1971;

„Jetzt schwillt der Lärm noch weiter an! Um mich herum springt alles auf. Trinkbecher werden zur Seite geworfen. Eine Gruppe Straßenarbeiter drängt gegen die Absperrung und versucht auf die Fahrbahn zu gelangen. Hupen, lautes Kreischen von Frauen, Hüte fliegen durch die Luft; Der Wagen muss unmittelbar vor mir sein, doch ich sehe nichts. Dicht an dicht schieben sich hier jubelnde Menschen nach vorn. Da, jetzt – das Auto! Eine winkende Hand – und ja, das ist Shiny Island! Shiny Island ist auf das Dach seines Ambassadors gestiegen und winkt uns zu! Was für ein großer Mann! Ein offenes Leinenhemd, zitronengelber Schal, die langen weißen Haare im Wind – und dieses breite Lachen. Wie schnell das ansteckt. Eine Frau zerrte eben noch an meiner Kamera – nun winkt sie und lacht jedes Mal wenn Shiny Island gegen den toten Kadaver tritt. Und was für ein fettes Monstrum liegt da auf der Motorhaube! Der Backenbär muss an die drei Meter sein. Ringförmiges Muster am Kopf, pelzige Ohren – und der Bauch wie aufgedunsen. Ein unheimliches Tier! Wie es wohl lebt? Und ob es Menschen frisst? Jetzt beugt sich Shiny Island zu dem Vieh hinunter, fasst mit der linken Hand in das riesige Maul und ...“


(Der Bericht bricht hier ab. Der weitere Verlauf ist unklar. Nach nicht geprüften Angaben war der Backenbär noch lebendig und es ist dann zu Tumulten gekommen. Der Augenzeuge ist unbekannt/unkenntlich)

Teckelhatz

Paule war gerade fünfzehn als wir ihm den Unterschied klar machten. Wir sind Menschen und er – entgegen seiner Annahme – nur ein mieser kleiner Langhaardackel. Der Vorfall spielte sich früh am Morgen ab. Der Obsthändler stellte gerade seine Kisten auf die Strasse, es war sonnig und ich ging mit dem Teckel zum Bäcker. Wie so oft löste ich den Karabiner an Paules Halsband. Er lief erfreut ein paar Schritte über die ***gasse und um exakt 07:18 erfasste ihn ein heranrasender Milchlaster.
In Folge dieses schrecklichen Unfalls wurde der Hund charakterlich anders, ja gefährlich. Die Vielzahl an Brüchen hatte zu einer totalen Versteifung seines Rückrades geführt. Hochbeinig versuchte er seitdem zu laufen, musste dabei aber den Kopf senken, was ihm ein verschlagenes Aussehen verlieh. Das linke Auge war vollständig ausgeschlagen und auch den Schwanz hatten die Ärzte nicht retten können – ein Wunder dass die Töle überhaupt lebte.
Er hatte wohl angenommen, die Anteilnahme der Familie würde ihm nun so zuteil werden wie Onkel Emil, der nun schon seit vier Jahren auf dem dunkelgrünen Sessel saß, seine alte Feldmütze trug und kaum sprach. Doch mit dem Dackel wollte sich so recht niemand abgeben. Paule pflegten wir ungern. Immerhin er war schon fünfzehn, und ehrlich gesagt als er wiederholt gegen den Unterboden des Milchlasters schlug, dachte ich in etwa: "Sauberes Ende." Die 13 Tage stationär beim Tierarzt hätten wir nie bezahlt, aber das Vieh war versichert und wurde mit gut einem Pfund Titan verstärkt in unsere Obhut entlassen ("Der ist aber recht bissig, ihr Kleiner").
Wir hatten ihn in der Tierklinik nicht besucht – ja, seine hartnäckige Lebendigkeit störte die gelöste und wunderbar melancholische Stimmung, die sich im Haus schon verbreitet hatte. Paule erkannte das. Er sah in die Augen, die ihm den Tod wünschten, und duckte sich.
Im Februar stand die Polizei vor der Tür. Ein Nachbar hatte Anzeige erstattet, weil ihm unser Hund die Wade blutig gebissen hätte. Meine Frau hielt dem Schutzmann den 9 Wochen alten Zweithund entgegen, der seit jüngstem der Augenstern unserer Familie war. Wir konnten einfach nicht mehr warten. Sogar die Kinder hatten sich so gefreut "endlich keinen Dackel mehr" zu haben. Eine Dänische Dogge ist es dann nicht geworden, aber ein Welpe – und kein Dackel. Das schlafende Wollknäuel überzeugte die Beamten. Er sei zu klein für solche Wunden. Ich schloss die Haustür, drehte mich um und sah in der Ecke unter der Treppe die langen braunen Haare von Paule. Als ich näher kam knurrte er mich an.
In den folgenden Wochen entwickelte sich unsere Nachbarschaft zu einer Region des Terrors. Immer mehr Spaziergänger – seit jeher war das nahe gelegene Moor beliebt – wurden in der Dunkelheit von einem "rasenden Dachs" oder auch "tollwütigen Waschbären" (so Frau Dieckmann) attackiert und präzise verletzt. Wir sahen uns gezwungen den schon länger zurückliegenden Tod unseres Dackels zu erfinden, um nicht beschuldigt zu werden.
Paule führte mehr und mehr sein eigenes Leben. Durch die Klappe an der grünen Tür verschwand er, blieb Tage aus und wenn er im Haus war verkroch er sich. Manchmal fanden wir Stuhl.
Er muss sich oft im Moor herumgetrieben haben, denn die Feuerwehr machte noch bei Frost Jagd auf ihn. Die ältere Tochter des Oberbrandmeisters hatte bei einem Stelldichein mit dem Sohn des Reifenhändlers fatalerweise das romantische Flüsschen im Moor aufgesucht, und war dafür von Paule mit einer durchtrennten Arterie im Bein und einem abgebissenen Ringfinger belohnt worden. Der junge Reifenhändler fiel auf einen Stein und liegt noch im Koma.
Wahrscheinlich waren alle so aufgebracht, weil eine alte Geschichte in ihren Köpfen herumgeisterte. In den 50er Jahren soll hier ein Mann von einem Tier getötet worden sein. Aber sogar Frau Dieckmann erzählt immer neue Versionen davon und das alles ist reichlich unklar.
Eigentlich hatte der Jagdverband zur Hatz aufgerufen, doch nach Protesten dörflicher Tierschützer ("Rührt das Moor nicht an, sonst seid ihr selber dran") sprach man Verbote aus und die Feuerwehr handelte auf eigene Faust.
Die Jagd war sehr schön. Ich hatte mich den dicken Männern angeschlossen, die die sumpfigen Bereiche in breiter Schützenkette betraten – deutlich sichtbar in ihren leuchtenden Jacken. Alles war einen Hauch eisig und die Schritte knackten im Holz. Für ein paar Stunden hielten alle gut mit. Zum Frühstück reichte man mir Korn und Speck, wie ich erfuhr das übliche Pausenbrot bei der hiesigen Wache. Wir hatten in einer Senke Halt gemacht, saßen auf feuchten Stämmen, froren aber kaum. Der Korn mag seinen Teil dazu beigetragen haben, denn als hinter mir die Schreierei anfing und die ersten Schüsse knallten drehte sich alles vor meinen Augen und ich kam nur mit Mühe hoch.
Im Matsch sah ich einen der Männer mit aufgerissenen Augen, der seine Hand gegen den Hals presste. Die Anhöhe hinauf rannte Paule – unnachahmlich in seiner steifen Hochbeinigkeit. Ich zielte und schoss beide Läufe ab. Kurzes Jaulen, der Dackel stolperte und blieb fiepend liegen.

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